50 Jahre reformierte Kirche in Widen AG

Predigt Teil 1 – Geschichte vor dem Kirchenbau

Nach dem Villmerger Krieg hatten die Zürcher um 1712 den Bau einer reformierten Kirche in Baden erzwungen. Die ganze Gegend hier auf dem Mutschellen gehörte zur reformierten Kirche in Baden.
Der erste reformierte Gottesdienst wurde hier in der Nähe angeblich abgehalten für die Strafgefangenen, die die Strasse über den Mutschellen bauten.
Es waren aber Berner Bauern und Zürcher Gärtner, die hier freiwillig hinkamen und sich eigene Kirchen wünschten. Rund um Wohlen gab es reformierte Geschäftsleute und Angestellte in der Stroh-Industrie. Vermutlich auch reformierte Eisenbahner und Beamte.

Die Zürcher Gärtner wichen der wachsenden Stadt aus, wie zum Beispiel die Familien Gündel oder Moser. Die Berner Bauern waren meistens Emmentaler, die sich in anderen Kantonen Höfe leisten konnten, da im Emmental kein Platz mehr war. Ein häufiger Name ist Leuenberger. Auch in reformierten Gemeinden im Kanton Luzern. Oder im Thurgau. In meiner ersten Stelle am Bodensee sind mir bei den Konfirmanden die vielen Bürgerorte im Emmental aufgefallen. Jemand hat spöttisch vermutet, dass diese Bauern unbedingt den Schutz höherer Mächte wollten. Ich würde da sagen, dass die protestantische Frömmigkeit wohl dazu beigetragen hat, dass sie gut gewirtschaftet haben. – Arbeit ist Dienst am Mitmenschen, hat Calvin geschrieben. – Nicht nur das Gebet im Kloster ist wertvoll, auch die Arbeit im Alltag oder für die Kinder, hat Martin Luther betont. Bis in die 20er Jahre gab es eine Kirchgemeinde Bremgarten-Wohlen, dann hatte Wohlen seine eigene Kirche und Kirchgemeinde.
Doch alle Menschen hier auf den Hügeln mussten nach Bremgarten hinab. Bei Geburtstagsbesuchen zum 85. oder 90. habe ich Geschichten gehört, wie man im Winter mit den Ski zum Konfirmandenunterricht ist. Oder in die Bez. Die Kirche war in Bremgarten. — Menschen über 80 können noch Geschichten erzählen, dass man sich nichts geschenkt hat. Von den Reformierten waren die Katholiken hier irritiert. Man hat sich beschimpft. Oder schikaniert. Und doch… mussten die Kirchen irgendwann zusammen arbeiten.
Einen Anstoss dazu haben sicher alle die Paare gegeben, die reformiert und katholisch waren. Ich denke, Brautpaar für Brautpaar hat die Liebe die Konfessionen zusammen geführt. Aber es war hart. Noch in den 50ern wurden gemischte Paare beschimpft. Noch in den 60eren erregten sie Unwillen. Noch in den 70ern kamen gewisse katholische Verwandte nicht zu Gottesdiensten, wenn da – womöglich – ein Reformierter dabei war.
– Vor zwei Jahren und vor zwei Wochen habe ich es im Altersheim erlebt, da wird jemand im Rollstuhl reingefahren, sieht mich im Talar und sagt: „Nein, bringen sie mich wieder auf’s Zimmer. Der ist reformiert.“

Und doch … Wurde hier 1967 eine grosse Chilbi mit Basar gefeiert. Kamen hier 1967 viele, viele Menschen zum Fest, dessen Erlös an den Kirchenbau ging. Es gibt ein herrliches Video. Die VW-Busse, die Hüte, das Vivi-Kola. Und die Bauarbeiter. Keine Stahlkappen, kein Helm, kein G’stälti, keine Handschuhe. – Dazwischen die beiden damaligen Kirchenpflegerinnen, mit denen ich mich über diese Zeit unterhalten habe: Eva Eggenberger und Marianne Heizmann. Und irgendwo unter den Schulkindern, die die Glocke hochgezogen haben, mein Pfarrkollege Hans Jakob.

Predigt Teil 2 – 50 Jahre reformierte Kirche Widen
Endlich, endlich hatte man einen eigenen Raum. Und die Gemeinde wuchs. – In den Strassen, in denen ich heute Leute zum 80. Geburtstag oder höher besuche, wohnten damals junge Familien, die sich hier ein Haus leisten konnten. Oder einfach mehr Platz als in Zürich. Es war zuerst eine verschlafene Gegend. Noch hatten sich wenig Vereine etabliert. Das sogenannte Forum war dann viele Jahre ein Ort der Ökumene, der Kultur und der Gemeinschaft. Stellvertretend nenne ich hier Anita und Beat Missbach. – Die Gemeinde wuchs durch Zuzug viele Jahre weiter. Die Infrastruktur wurde angepasst.
Der grosse Verkehr zwischen Zürich und Bern ging nicht mehr über den Mutschellen. Sondern durch den Baregg. Heute kennen die Motorradfahrer den Mutschellen noch. Oder Offiziere. Eigentlich verrückt, wie lange der Verkehr noch durch Bremgarten ist. Schön, was Bremgarten heute für ein Schmuckstück ist. Und immer noch, gibt’s glaub ein paar Häuser, die man renovieren könnte.
Mitte der 80er Jahre kam der Jugend-Pavillon hinzu. Und es gab eine Zeit, da eine Gruppe Jugendlicher sich aus der Schule so gut kannte, dass sie sich auch in der Kirche und für die Kirche trafen. Mit leuchtenden Augen erzählen sie davon, wie man ein Konzert mit Polo Hofer vorbereitet hat. Ein paar sind heute die Eltern von Konfirmanden. Mitte der 90er wurde das KiBiZi gebaut und das Alterszentrum. Später der Sportplatz. So steht die Kirche immer noch schön am Wald, aber längst nicht mehr am Rand. Sondern mitten drin.
So hatte die Gemeinde 50 gute Jahre, aber auch schwere Jahre.
Das Kelleramt hat unter Getöse eine eigene Kirchgemeinde bekommen. Der Abgang von Pfarrer Aerni war hässlich. Und vor ein paar Jahren brachen die Einnahmen ein. So richtig heftig. Die Diskussionen um’s Geld waren hässlich. Stellen mussten neu definiert und neu besetzt werden. Die Kirche brauchte eine Renovation. Es waren kaum Reglemente da. Absprachen im Team waren schwierig. Jeder berief sich auf sein Gewissen. Manfred Streich und unser Sekretariatsleiter Hanspeter Fischer haben viel mehr ausgehalten, als Sie vielleicht vermuten. –

50 Jahre reformierte Kirche Widen. – Es sind genau die 50 Jahre seit der sogenannten 68er Revolution, in der begann, was uns zum Teil noch beschäftigt: Die Rolle von Mann und Frau. – In dieser Gemeinde hat Sylvia Michel gearbeitet, die als erste Frau in Europa eine Kirche geleitet hat, nämlich als Kirchenratspräsidentin in Aarau. – Man hat oft gesagt, hinter erfolgreichen Männern stehe eine Frau, die sie stütze. Und hinter Frauen Männer, die sie zurück halten. Hinter Sylvia Michel standen die Pfarrkollegen, die ich hier auch noch erwähnen möchte: Ewald Scholer und Christian Bühler. Väter fragen mich oft, wie es Pfarrer Scholer geht. Oder Leute erinnern sich dankbar an Taufen und Hochzeiten von Christian Bühler.
Frauen waren schon vor 50 Jahren in der Leitung dieser Gemeinde und Frauen haben in dieser Gemeinde viel mitgearbeitet. Sehr dankbar bin ich für die Spuren, die gute Katechetinnen hinterlassen. Wenn 13 jährige Jungs in die Kirche eintreten. Dann muss die Katechetin eine Wucht gewesen sein. In der heutigen Zeit. Hier und jetzt.

Predigt Teil 3 – Ausblick und Hoffnung
Das Team der Ordinierten ist heute besser organisiert als vor vier Jahren. – Der Unterricht läuft, an den Festtagsgottesdiensten feilen wir, wie zum Beispiel an Heiligabend, Gründonnerstag oder am Abendmahl mit den Schülern, es ist klar geregelt, wer wann Beerdigungen übernimmt. Jeder hat einen Funktionsbeschrieb und die meisten erfassen ihre Arbeitszeit und reflektieren darüber, welche Arbeit welchen Platz einnimmt. – Das Budget wird gepflegt und das Personalwesen löscht nicht mehr nur Brände, sondern schaut in die Zukunft. Das Budget hält noch ein paar Jahre. Wenn wir bei den Pensen vorsichtig sind, auch länger.

Aber… die Kirche träumt noch. Die Kirche träumt noch. Sie träumt davon, dass wir nur eine grössere Portion Werbung brauchen, nur eine Handvoll besonders guter Anlässe, oder irgendeine Innovation. Dann … ist es wieder gut. Dann kennt man uns, man schätzt uns und wir werden gebraucht.

Die Realität ist aber anders. – Wir sind eine Minderheit. Ob schon aktuell oder in zwei Jahren wird es weniger Reformierte geben als Konfessionslose. Wir sind eine Minderheit, die Leute haben immer weniger Ahnung und die Zukunft ist unsicher.
Das gute Gefühl ist weg. Das gute Gefühl, dazu zu gehören, von Mitgläubigen umgeben zu sein, eine Arbeit mit Sinn zu leisten, und auf Jahre in Ruhe arbeiten zu können, das ist weg. Das gute Gefühl ist weg. – Meine Zeit im nahen Osten war da brutal lehrreich. Einmal NICHT zur Mehrheit gehören.
Warum? Den Menschen geht es gut, und sie können wählen, wie sie ihre Freizeit verbringen. Ein Teil hat viel Freizeit, andere weniger, die sind um so wählerischer. Viele Frauen arbeiten. Viele Männer sind auch Daheim. Das ist das, was die Gleichberechtigung wollte, das ist das, was die eigene Altersvorsorge braucht. – Die Menschen können selber auswählen. Das ist ein riesen Wert, den alle Fanatiker hassen. Ich mag keine Austritte, aber man darf gehen. – Wieso wählen sie nicht die Kirche? – Vergessen wir nicht, Religion war lange, lange Zeit viel Zwang und Druck. Langweilige, unverständliche Pflicht. Gewählte, unkündbare Mitarbeiter, die im Zweifelsfalle Jahrzehnte genervt und geschadet haben. – Kirchen-Leute wählen auch. Manchmal faule Ausreden, Lügen und Unglauben. Das einzusehen ist für Mitarbeiter der Kirche hart. Ich würde mir einmal einen Kirchenratspräsidenten wünschen, der sagt: Ja, es gibt auch schlechte Arbeit. – Ja, ist hart. Selber hat man die Kirche positiv erlebt, aber jetzt arbeitet man in einem Umfeld, in dem man oft falsch verstanden, dumm angemacht oder ausgenutzt wird. Es gibt wenig klare Leitung. Regeln werden nicht durchgesetzt. Und dann sollen wir noch selbstkritisch sein? Qualität verbessern? Machen doch genügend Kollegen, was sie wollen… – Wenn wir an etwas leiden, dann an fehlender Freude.

Was sollen wir tun? Ich denke, wir sollten trauern. Ich denke, als Ordinierte sollten wir trauern um die Mehrheitskirche, um die Gemeinschaft, um die Sicherheit, um den sicheren Sinn. Wir sollten trauern, über verlorene Gemeinschaft unserer Jugend. Trauern über die Momente, in denen man uns heute falsch versteht, dumm anmacht oder ausnutzt. – Trauer ist schwer, macht aber Platz für neue Freude und sie macht mitfühlend. Für die Leute, denen Kirche geschadet hat.

Wir sollten geduldig weiter arbeiten. Diszipliniert. Transparent. Nützlich. Wir sollten vergeben.
Trauer, Geduld, Vergebung.
Trauer erleichtert, Geduld stärkt, Vergebung befreit.
Alles zusammen macht Platz für Liebe und Freude.

Ich komme zum Schluss. Seit 50 Jahren sind viele Freiheiten erkämpft worden. Das ist wunderbar. Menschen wählen und gestalten ihr Leben. Mit oder ohne Kirche. Viele Menschen haben eine schlechte Kirche erlebt, anderen ist es wurscht, und die Mitarbeiter müssen damit leben. Wir werden unseren Weg finden durch Trauer, Geduld und Vergebung. Daraus Freude, Qualität und Liebe. – Sie sind schwer, aber mächtig. Ich finde nichts so schwer wie ehrliche Trauer, echte Geduld und Vergebung. Sie führen zu Freude, Qualität und Liebe. Und Liebe ist stärker als der Tod. – Lernen wir vom König in der Krippe und vom König am Kreuz die Trauer, die Geduld und die Vergebung. Dann werden wir noch einmal die Hefe sein, das Salz und das Licht auf dem Berg. – Amen.

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