Die tätowierte Pfarrerin
Es war ein spannender Vortrag im H50 in Zürich, engagiert vorgetragen von einer Frau, die viel erlebt und überstanden hat. Nadia Bolz-Weber ist lutherische Pfarrerin in den USA, Bestseller-Autorin und sie hat eine spezielle Gemeinde mitgegründet:
„The house for all sinners and saints“.
Sie wirbt dafür, dass wir uns als Christen nicht maskieren müssen, dass wir angenommen sind bei Gott, dass wir von Wunden berichten dürfen als Pfarrpersonen, dass wir transparent sein sollen in unserem Glauben und unserer Lebensgeschichte. Ja, dass wir sogar einmal grauenhaft wütend sein dürfen. –
Für sie steht die Gnade Gottes im Zentrum. Wir alle brauchen die Gnade Gottes.
Ja, wir brauchen ihn unbedingt, diesen ehrlichen Blick auf uns. Und wir brauchen den Zuspruch der Gnade Gottes, wenn unser Lebensweg lang und verschlungen war. Wir brauchen einen sehr starken Zuspruch von Gottes Liebe, wenn wir uns für unser Leben sehr schämen, oder es wirklich verrucht und kaputt war.
Ja, wir brauchen die Wahrheit, dass wir enormes Potenzial für gut und böse haben. Beides.
Ja, wir dürfen glauben, dass Gott uns gnädig ist, wenn wir unser Potenzial zu lange für Böses benutzt haben.
Ja, nach 20 Jahren Drogen oder Alkoholmissbrauch ist man ein paar Jahre sicher froh, einfach noch zu leben, einen Alltag hinzubekommen. Vielleicht sogar einen Lebensunterhalt.
Und dann? Dann sollten wir uns tummeln! Finde ich. Nach der Erholung, nach der puren Freude, dass es uns noch gibt, dann beginnt die Arbeit. Jedenfalls, wenn wir auch noch ein anderes Leben leben wollen… Und es eigentlich auch könnten.
Nadia Bolz-Weber hat zugegeben, dass nicht jeder davon berichten kann, die „big, sexy addictions“ überstanden zu haben… Das finde ich wichtig.
An dem Punkt würde ich nicht stehenbleiben wollen.
Je länger ein Lutheraner dann bei der Gnade bleibt, und dass alles Gnade ist, und man sich einfach freut, überhaupt noch zu leben, desto unruhiger werde ich. Da fällt mir ein, dass Luther den Jakobus-Brief nicht mochte. Dort wird betont, dass der Glaube auch handfeste Ergebnisse haben soll.
Alles ist Gnade? Wirklich alles, was geschieht, war und ist Gnade? Hier schiessen mir die Lutheraner über das Ziel hinaus. – Wenn alles, was geschieht, Gottes Gnade ist, dann macht mich das wieder sauer: Gott hätte dann ja wohl etwas kräftiger, häufiger und früher eingreifen können. An so einen Gott kann ich nicht glauben.
Nein, Nein, Nein. – Ich glaube an einen Gott, der vergibt, uns liebevoll begleitet, nicht allmächtig eingreift, aber wünscht, dass wir dran bleiben. Weiter wachsen und lernen.
Auch wenn das Gleichnis von den anvertrauten Talenten nicht beliebt ist: Jesus hat die Messlatte hoch gesetzt. Wir sollen tun, was uns möglich ist. Und sehr, sehr, sehr vielen Menschen ist noch mehr möglich. Nicht jeder muss sich von 20 Jahren Drogen- und Alkoholmissbrauch erholen.
Soweit meine Gedanken zu dem Vortrag von vor ein paar Jahren.
Damit habe ich die Theologie der Dame aber nicht abgehakt.
Ganz im Gegenteil. Gerade diesen Moment, im Spätherbst 2021, denke ich, dass ich das eine oder andere Buch von ihr noch lesen sollte. Eben, weiterlernen …
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!